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Das Lied der Tausend Nächte
Rafael (Strophe 2)
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Hochzeitsnacht
Der Neue


Rafael (Strophe 2)


"Doktor, die Steuerunterlagen müssen Sie noch ausfüllen."

Eliana zuckte zusammen, löste ihren Blick seufzend von den Dächern der Stadt und beschnupperte unwirsch das Tohuwabohu auf ihrem Schreibtisch. "Was muss das jüdische Volk noch alles ertragen?", lamentierte sie.

Keine Antwort aus dem Vorzimmer. Also bellte sie durch die angelehnte Tür: "Doktor sollst du mich nur vor nebbichen Patienten nennen. Was daran ist zu viel verlangt von einer meschuggenen Empfangsdame?"

"Rate, wer zum Essen kommt!", knurrte es zurück.

En Karem: Quelle

"Rafael! Hereinspaziert, mein Junge."

Der Angesprochene winkte und schlurfte in ihr Büro. Sie nahm ihn in die Arme, nicht ohne prüfend über Rücken und Hände zu streicheln. Rhythmisch zuckten die Finger seiner Rechten und verdächtig flach atmete er. Trotzdem sog er das Aroma ihres gammligen Büros mit geschlossenen Augen ein, wie ein Archäologe in einer Grabkammer. Für einen Schlag setzte das Herz der Ärztin aus und matt versank sie in seinen krampfenden Armen. Die Symptome hatten sich verschärft.

"Mutig von dir", grinste Rafael, "einen 120-Kilo-Ringer Empfangsdame zu nennen. Eines Tages wird er dich erwürgen und dem israelischen Volk eine Rente sparen."

"Der Brummbär? Ein Kriegsheld bin ich. Der Geheimdienst müsste ihn exekutieren."

Rafael löste sich von ihr. "Privat nennt er dich Eli und vor den Patienten Frau Doktor?"

"Das muss er!" Eliana umrundete ihren überbordenden Schreibtisch und ließ sich in den Chefsessel gleiten, der ihren krummen Rücken wohltuend stützte. Dabei ließ sie ihren Schützling nicht aus den Augen. "Ein anständiger Jude wird nur gesund, wenn ihn eine Respektsperson behandelt, zu horrenden Kosten. Eine löbliche Ausnahme bist du." Sie biss sich auf die Unterlippe. Das war zweideutig gewesen. Nur ein Wunder würde Rafael gesunden lassen.

Er schien ihr Zögern nicht zu bemerken. "Und die Araber? Lassen sie sich von einer Jüdin heilen?"

"Nur, wenn es Gott gefällt. Und das werden sie zu verhindern wissen." Mit Absicht hatte Eli ihm nicht in den Stuhl geholfen. Kein leichtes Humpeln, kein Zittern der Hüfte entging ihrem Adlerauge, als der Junge sich ein Glas Wasser einschüttete und sich ihr gegenüber niederließ. So ein Schlamassel.

Stumm belauerten sie sich. Sie gleich einem Luchs, er wie ein kranker König auf seinem Thron. "Das letzte Jahr war eine Offenbarung. Das Leben hat mich geküsst."

"Fünfundzwanzig, ein großartiges Alter, mein Sohn. Noch ein bisschen Jugend, schon ein bisschen Verstand. Und nicht bloß das Leben hat dich geküsst, hoffe ich."

Schelmisch lächelte er. "Nur meine Mutter. Fragen über Sex lassen sie anlaufen wie eine Tomate."

"Die alte Dattel." Eli schnaubte. Vor einem Jahr hatte sie Rafael aufgeklärt, der hatte es nicht recht glauben wollen.

Seine Augen stahlen sich fort. "Mit einem Mädchen habe ich getanzt, bin ihren Bewegungen gefolgt, habe mich von ihrem Duft davontragen lassen. Ich fürchtete schon, meine Medikamente würden versagen. Ihre Anmut ließ mich mein Schicksal vergessen, den Krieg, den Terror und die Intifada. Dann tanzte sie davon, ich erfuhr nicht mal ihren Namen. Hip-Hop nennt sich die Musik, sehr laut, sehr hart. Nicht einen Beat lang störte sie das."

"Genieße deine Techtelmechtel, mein Sohn. Der Duft einer tanzenden Frau ist mehr wert als überteuerter Tinnef." In zwölf Monaten hatte der junge Rafael ein halbes Leben nachzuholen gehabt. Hineingeworfen hatte er sich und glänzend geschlagen, ganz ohne Schulbildung, ohne Erfahrung. Nicht recht erwachsen, doch beileibe kein Kind mehr. Mit Chuzpe hatte er sich den Fängen der Ärzte entzogen, die nach dem medizinischen Kuriosum lechzten. Der Instinkt des Ungebildeten hatte ihm versichert: Sie dürfen dich nicht einkerkern in ihrer Klinik; du bist erwachsen, frei! Also floh er - geradewegs in die Fänge seiner Mutter.

Etwas stimmte nicht! Ihr Gespräch war erloschen.

Quelle

Eliana schleppte sich zur Tür.

Regelmäßig zuckten Rafaels Augäpfel hin und her, aber es loderte kein Feuer in ihnen. Eli folgte dem Takt, ihre Uhr konnte sie danach stellen. In einen Gedanken hatte sich der Junge verstrickt; vielleicht in den Rhythmus des Liedes, an das er sich erinnerte, oder in die Schritte des Mädchens. "Stell dir eine Kalksteinwand vor", hatte er es beschrieben. "Vollkommen weiß, unendlich hoch. Tastend wanderst du sie entlang, die rechte Hand gleitet über den Putz. Und nach einigen Metern knickt sie nach rechts ab - und du folgst ihr. Nach einigen Metern wieder und wieder und wieder. Und du folgst ihr und folgst ihr und folgst ihr. Dein Weg endet nicht. Niemals!"

"Dann beende den Schmu. Bieg nach links ab!", hatte sie geantwortet. Doch das war unmöglich. Wie Lemminge wanderten die Gedanken des Kranken in endlosem Gleichlauf durch seine Gehirnwindungen. Stunden und Tage konnten vergehen. Es tat nicht weh, war keine Folter, Rafael versank lediglich in ewige Wiederkehr. Doch wusste Eli eine Möglichkeit, ihn aus seiner Hölle zu befreien: angewandte Wissenschaft! Die Ärztin beugte sich vor, verpasste ihm eine klatschende Ohrfeige und verbarg ihre Schandtat unter einer würdevollen Miene.

Das Leben kehrte zurück in Rafaels Augen, doch das Zucken seiner Pupillen blieb. Er schüttelte sich. "Du musst mich nicht schlagen, eine feste Berührung genügt."

"Gönn einer alten Frau ihre Freuden. War das dein erstes … Dahinschwinden seit …?"

Er zuckte die Schultern. Das Versinken entzog sich seiner Kontrolle, wie auch seiner Erinnerung. Nur seine Mitmenschen bekamen es mit, wenn er abglitt. Für ihn war es wie Einschlafen, ein Übergang ohne Übergang. "Ich fürchte mich. Wie damals als Kind."

Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Mit elf Jahren hatte Rafael die Hölle durchlebt, eine sanfte, verschlingende Hölle. Immer wieder entschlummerte er für Stunden und niemand fand ein Mittel dagegen. Einem seltenen Verlauf der Schlafkrankheit ähnelte es, einer Virusinfektion von 1920. Hunderte Fälle waren damals dokumentiert worden. Doch längst war die Krankheit besiegt. Rafael trug das Virus nicht in seinem Blut, auch seine Mutter nicht. Bei seinem Vater war man auf Vermutungen angewiesen. Irgendwann, nach Monaten, war der Junge ganz hinübergeglitten, nichts vermochte mehr, ihn aufzuwecken. Füttern konnte man ihn und rasieren in diesem Zustand, ihn in einen Rollstuhl verfrachten, aber an nichts nahm seine Seele Anteil. Kennengelernt hatte Eliana ihn erst Jahre später, dahinvegetierend.

"Einmal hab ich dich zurückgeholt, wieder wird es gelingen!"

"Und wird es wieder dreizehn Jahre dauern? Ich fürchte mich nicht vor dem Verlöschen, aber trauere der verlorenen Lebenszeit nach. Du bist nicht überrascht, nicht wahr?"

Unterschiedliche Medikamente hatte Eli in den letzten Jahren an dem Jungen erprobt, welche die Dopaminproduktion des Körpers anregten. Alle hatten seinen Stoffwechsel in Schwung gebracht, seine Hirnströme angestachelt, nur aufgeweckt hatte ihn keins. Bis vor einem Jahr Neurotrans freigegeben wurde. Keine drei Tage hatte sie es ihrem Schützling verabreicht, da war er aufgewacht, ein elfjähriger Junge im Körper eines Vierundzwanzigjährigen.

"Also Tacheles: Das Muskelzucken, die Tics und das Flackern deiner Augen: Nebenwirkungen von Neurotrans. Dein Dopaminspiegel sank in den letzten Wochen beharrlich. Also habe ich die Dosis erhöht. Natürlich hast du das mitbekommen."

"Besonders das Augenzucken. Sehr lästig."

"Nenn es Okulogyre Krise, dann kannst du vor den Mädels damit angeben. Die Tics werden bleiben, solange wir die Dosis erhöhen."

"Und wenn wir Neurotrans absetzen?"

"Wirst du immer öfter versinken. Erst kurz, dann länger, dann auf Dauer. Mit den Nebenwirkungen musst du leben." Nur wie lange? Wann würde das Medikament sich endgültig abnutzen? Wenige Wochen gab Eli ihrem Schützling.

"Das letzte Jahr habe ich geliebt. Werde ich wieder lieben können?"

"Jährlich kommen neue Mittel auf den Markt, Rafael. Irgendein ausgekochter Jude wird ein neues entwickeln und einen Haufen Kies damit einheimsen. Das erwartet die Welt von uns. Ein Volk von Akademikern sind wir. Tausend kommen auf einen Maurer."

Hadassah Medical Center: Quelle

Rafael stand auf und trat ans Fenster. Zwanzig nicht endende Sekunden brauchte er dafür. Eli brach es das Herz. Sein Blick glitt über die Hügel En Karems, eine ehemals arabische Gemeinde im Westen Jerusalems, und blieb am Verwaltungstrakt des Hadassah Medical Centers haften. "Heute Abend packe ich meine Sachen. Morgen ziehe ich zurück in die Klinik."

"Bist du verrückt, Junge? Morgen noch nicht, morgen beginnt das muslimische Opferfest. Jerusalem wird erzittern, besonders der Osten. Das Spektakel darfst du dir nicht entgehen lassen! Vier Tage am Stück feiern die Muslime, diejenigen mit israelischem Pass, die Palästinenser, die Illegalen. Wir werden Harissa essen, das beste im Umkreis von zehntausend Meilen. Erst wird gebetet, dann gegessen und schließlich getanzt. Wir werden tanzen!"

Rafael lächelte schwach. "Sprichst du Arabisch?"

"Ein paar Brocken Arabisch, ein paar Brocken Englisch. Hebräisch und Deutsch wie meine Muttersprache. Hebräisch, weil es die Sprache des Herrn ist, und Deutsch, falls ich in die Hölle komme." Sie seufzte. "Einst reiste ich getarnt als Muslima mit al-Khedir durch den Libanon bis Beirut. Habe ich dir die Geschichte erzählt? Deinen Vater traf ich dort."

Skeptisch schaute er zu ihr hinunter: "Du hast Vater gekannt? Wie war er?"

"Ein Held!" Eli schnaubte. "Alle Opfer in den zahllosen Kriegen seit der Staatsgründung sind Helden, selbst die Gauner und Ganoven. Dein Vater war kein Gauner, er war kein Heiliger, wünschte euch und sich lediglich ein unbeschwertes Leben. Dann ging er kapores, wie all die anderen Helden. Und mich ungläubige Schickse lässt Gott in seiner unbehaglichen Güte alt und runzlig werden." Mühsam erhob sie sich und befleckte dabei mehrmals den Namen des Herrn. Behutsam legte Eliana dem hoch aufgeschossenen Rafael die Hand auf die Schulter. Gereift war er im letzten Jahr. Zum Sonderling geworden. Seinen Augen fehlte das Fundament, versinken konnte man darin; kein Wunder, dass die Mädchen ihn scheuten. Eine Frau wäre vielleicht bereit, sich diesem Abgrund zu überlassen.

"Deinen Rat werde ich vermissen, Eli. Deine jiddischen Flüche und deinen Starrsinn. Erzähl mir die Geschichte von meinem Vater bei meinem nächsten Erwachen. Heute brauche ich keinen Trost mehr. Heute versinke ich nicht. Heute bin ich glücklich."


»Vom Tod hat er heut Nacht geträumt
Ihm wollt er fröhlich winken
Doch hat der Tod an Frohsinn nie geglaubt
Hat ihm die Sinne eingezäunt
Durch stetiges Versinken
Ihm noch den letzten Atemzug geraubt«


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