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Inkognito


Das mächtige Haupttor thronte schützend vor den Mauern Domizils. Niemand hätte gedacht, dass es seit Jahrzehnten nicht mehr entriegelt worden war. Der schmale, in das Tor eingelassene Eingang öffnete sich und eine Gestalt trat ungelenk hervor.

Das war nicht unbemerkt geblieben bei den Belagerern des Hauses. Neugierige Wachsamkeit stellte sich Domizil entgegen. Die Gestalt schloss gewissenhaft die Pforte und lenkte ihren Blick auf die Wand aus Bäumen vor sich. Der schmächtige Mann schlenderte los.

Quelle:Nikanos

Seine Ohren vernahmen Schüsse. Sie galten ihm, doch die Kugeln jagten in den Himmel; zur Umkehr wollten sie ihn bewegen. Es entstand eine kurze Pause, in der er unverdrossen weiterstapfte. Sogleich peitschten ihm die ersten Kugeln um die Beine. Der Staub, den sie aufwirbelten, war furchteinflößend; aber keine Kugel wagte sich an ihn heran. Der kleine Mann zog sich seine Strickjacke fester um die Schultern und trottete unbeirrt auf die feindlichen Linien zu. Er stellte nicht gerade eine Ausgeburt von Gefahr dar.

Jonas war unbeeindruckt. Er fand keinen Grund, ihm ein Leid anzutun. Von den Brüdern war er der unwichtigste. Nicht mal der Vatikan wäre bereit gewesen, ein Lösegeld für ihn zu zahlen. Er dachte flüchtig an die Wächter im Haus hinter sich. Vielleicht hielten sie ihn für tollkühn, aber er suchte nach Antworten und dazu musste er sich in Gefahr begeben. Die Armee vor ihm wurde von Lakaien geführt. Ein ungeschickter Lakai verriet oft mehr über seinen Herrn als beabsichtigt. Deshalb empfahl es sich, fachkundiges Personal einzustellen. Doch selbst das Format eines Handlangers sagte noch viel über die Raffinesse seines Gebieters aus. Mr. Inkognito hatte sich mit seinem einzigartigen Streich gegen die Familie den Anschein des Meisterhaften gegeben. Doch es blieb abzuwarten, ob hinter der Fassade ein ebenso meisterhafter Plan steckte. Wieso richteten sich die Waffen der Belagerer hauptsächlich nach außen? Was beschützten sie vor wem? Und wieso wurde nicht verhandelt? Die Behörden konnten jeden Augenblick Wind bekommen von den kriegsähnlichen Zuständen in der Lüneburger Heide.

Als Jonas das Pförtnerhäuschen erreicht hatte, trat ihm die Mündung eines Gewehrs entgegen; sie wackelte zögerlich, ließ ihn aber nicht vorbei.

"Bring mich zu deinem Anführer", ersuchte er die Mündung, "ich habe mit ihm zu reden!"

Nach einigem Zögern nickte sie, wandte sich um und er folgte ihr. Die Heeresleitung tagte in einem Sattelschlepper. Er musste kurz warten, bis er hereingelassen wurde. Ein blitzender und klimpernder Offizier musterte ihn herablassend. Im Gegensatz zu den Männern um ihn herum trug er sorgsam gepflegte Rangabzeichen, die Jonas völlig unbekannt waren. Sein verzwirbelter Schnurrbart verlieh ihm etwas Preußisches.

Die Gier war ihm nicht anzusehen, aber Isaaks erfolgreiche Bestechung hatte sie offengelegt. Die meisten Söldner waren gierig, es lag in ihrer Natur und bedeutete eine Schwäche, die es auszunutzen galt. Dazu gesellte sich reichlich Arroganz, ein weiterer Vorteil.

"Ich wollte mich gleich an die Junta wenden", eröffnete Jonas das Gespräch.

Die Reaktion des Mannes zeigte, dass er um den Begriff wusste, also gebildet war. Die Junta stammte aus südamerikanischen Militärdiktaturen: "Sie haben Mut, mich aufzusuchen, Herr van Rathen."

"Wer für die Freiheit kämpft, muss damit rechnen in Gefangenschaft zu geraten", zitierte Jonas lapidar. "Ich muss mich entschuldigen, bringe ich Ihnen doch kein weiteres Bestechungsgeld; ich bin arm wie eine Kirchenmaus", tönte er mit aller Freundlichkeit quer durch den ganzen LKW und verdunkelte die Gesichtsfarbe seines Gegenübers um mehrere Nuancen. "Ich möchte verhandeln."

"Was könnten Sie mir denn anbieten, was einen Handel wert ist?", kam die eiskalte Antwort zurück.

Jonas lächelte pastoral. "Oh, ich möchte nicht mit Ihnen verhandeln, sonder mit jemandem, dem es erlaubt ist, Entscheidungen zu treffen."

Damit hatte er ihn. Keinen Schritt würde sein Gegner ihm von nun an entgegenkommen: "Sie werden mit mir Vorlieb nehmen müssen, Herr van Rathen. Ich bin der einzige, der Ihnen zu helfen vermag."

"Sie wollen keinen Kontakt zu Ihrem Auftraggeber herstellen?"

Der Kommandeur lächelte: "Wie ich schon sagte …"

Jonas spielte den Zerknirschten. Sein Gegner sollte seine Macht genießen und die Lust an dem Gespräch nicht verlieren. "Darf ich meinen Bruder und meine Stiefmutter sehen? Ich will sicher sein, dass sie wohlauf sind."

Kopfschütteln.

"Wir haben Mediziner in unseren Reihen, die auf ihre Leiden spezialisiert sind; erlauben Sie eine Untersuchung?"

Der Kommandeur genoss es, ihn auflaufen zu lassen.

Jonas versuchte es erneut: "Können Sie wenigstens eine Nichtangriffs-Garantie für heute Nacht gewähren? Unsere Leute sind übermüdet und könnten unbesonnen handeln."

Wieder verneinte man sein Ansinnen. Aber ein kurzes Zögern zeigte Jonas, dass dem Kommandeur in diesem Punkt bindende Befehle vorlagen. Entweder gab es eine festgesetzte Angriffszeit oder er durfte keinen Ausfall provozieren. Jonas hakte nach und schaute dabei recht hilflos drein: "Mein Bruder ist es nicht gewohnt, aus der Defensive zu agieren. Zu Hause geht er die Wände hoch und könnte sich zu einem Gegenangriff entschließen."

"Der keine Aussicht auf Erfolg hätte."

Es waren nicht die Worte des Offiziers, sondern seine Körpersprache, die Jonas triumphieren ließen. Sein Gegenüber stand unter dem Auftrag, einen Ausfall um jeden Preis zu verhindern. Der Seelenkundige lehnte sich entspannt zurück und zog den Abzug: "Deshalb werde ich dafür sorgen, dass unser Angriff größtmögliches Aufsehen erregt. Wir werden einen Flügel des Hauses sprengen und einige Gastanks zur Explosion bringen. Die Flammen werden bis nach Hannover strahlen. Wollen wir mal sehen, wie sich Ihre Söldner gegen Sondereinsatzkommandos bewähren. Missverstehen sie mich nicht, ich weiß von der Aussichtslosigkeit eines Ausfalls; aber mein Bruder ist nicht zu bremsen, also muss ich ihn von Herzen unterstützen." Er breitete hilflos die Arme aus und schaute befriedigt dem davoneilenden Kommandeur hinterher, der klug genug war, seine Grenzen zu kennen.

Wenig später sah sich Jonas einem altertümlichen Funkempfänger gegenüber und wartete auf Mr. Inkognito. Der Kommandeur hatte ihn alleingelassen, nur ein Posten wachte bei Jonas. Das Gerät quietschte und rasselte und mühte sich, den Störsendern zu widerstehen, die über die Gegend befahlen. Eine blecherne Stimme schälte sich schließlich aus dem Krach; es war tatsächlich ein Mann: "Was wollen Sie, Jonas?"

"Eine Einigung. Sie spielen auf Zeit; und da ich nicht weiß, wieso, kann ich das nicht zulassen. Wenn wir uns schnell einigen, werden Sie die Früchte Ihrer exzellenten Verhandlungsposition ernten - andernfalls fahren wir alle gemeinsam zum Teufel!"

Kurze Pause.

"Sie drohen mit Ihrer Vernichtung? Ich dachte, das sei mein Druckmittel?"

"Wir wollen der Vernichtung entgehen. Aber Sie können uns keine Garantie bieten, selbst wenn wir Ihnen alles gewähren, was Sie verlangen."

Die Antwort, die folgte, ließ Jonas erschauern. Die seelenlose, quäkende Maschine, welche sie ausspuckte, verlieh ihr die rechte Drohung: "Die Vernichtung der Rathens ist mein Ziel. Ihr Ehrgeiz nahm überhand, Ihr Horizont erhob sich zu weit. Sie haben geschaut, was ungesehen bleiben soll; das wird Ihren Untergang herbeiführen. Wir werden Ihnen alle Mittel nehmen, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen. Der Vorwitz ihrer Brüder kommt Sie teuer zu stehen, Jonas. Sie hätten in Ihrem Kloster bleiben sollen. Es stellt sich nur die Frage, wer überlebt. Mehr liegt nicht in Ihrer Hand!"

Jonas bemühte sich, über die Freilassung seiner Nächsten zu verhandeln, aber Inkognito blieb kurz angebunden. Schließlich versuchte er, sich mit einer Drohung uns der Defensive zu befreien: "Sie werden also auf einen Ausfall mit Gewalt reagieren? Und auf beiden Seiten die Gesundheit unschuldiger Menschen gefährden?"

Keine Antwort.

Inkognito hatte abgeschaltet. Es gab keine Verhandlung!

Der Kommandeur hatte das Gespräch anscheinend belauscht, denn er trat hinzu und sonnte sich im Glanz seines Meisters und Jonas' Bestürzung. Einige gebellte Anweisungen warfen den Theologen aus dem Funkraum hinaus und die Gewehrmündung eskortierte ihn zurück in Richtung Domizil. Offenbar hatte man keine Verwendung mehr für ihn.

Die Sonne war untergegangen. Noch ein Licht weniger, das der Familie leuchtete. Jonas trottete enttäuscht zurück. Er witterte eine weltumspannende Verschwörung. Vielleicht eine Konspiration, welche den beträchtlichen Aufwand an Mensch und Material rechtfertigte? In was hatte Hendrik seine Nase gesteckt? Und wieso verschloss er sich weiterhin? Es sah ihm ähnlich, eine Fehde allein auszufechten, die seine Kräfte überstieg. Er hatte in ein Wespennest gestochen. Aber kämpften sie gegen Wespen oder gegen jemanden, der das Nest nur geschickt platziert hatte?



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