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Der Kardinal


"Jonas van Rathen. Ein klangvoller Name. Ich freue mich, wenn auch verspätet, Sie persönlich bei uns in Regensburg willkommen zu heißen."

Der alte Mann faltete die Hände. Seinen Worten fehlte es an Wärme, aber keine Spur von Ablehnung begleitete sie. Ein hoher kirchlicher Würdenträger auf der einen Seite des Schreibtisches, ein junger Erwachsener, verloren im Selbstzweifel, auf der anderen. Jonas kaute auf seiner Unterlippe. Er wünschte sich weit weg. Und sein Gegenüber tat nichts, um die Barriere zwischen ihnen niederzureißen: "Ihr Name öffnet natürlich Tür und Tor unserer Universität. Hatten Sie Bedenken, ihn einzusetzen?"

Der Junge schaute argwöhnisch hinüber. Trotzdem schuldete er seinem Gegenüber eine aufrechte Antwort: "Mein Name gehört zu mir. Er verdeutlicht, wer ich bin und woher ich stamme. Ihn zu nutzen, um Wissen und Berufung zu erlangen, erscheint mir redlich. Denn was sich daraus entwickelt, was mich hier erwartet, wird allein mein Verdienst sein, Eminenz."

Regensburger Dom; Quelle:Omnidoom_999

Kardinal Joseph Ratzinger erhob sich lächelnd: "Ich habe den Brief gelesen, den Sie dem Dekan unseres Fachbereiches geschrieben haben. Er war aufrichtig und fesselnd. Ich musste sicher gehen, dass er aus Ihrer Feder stammt. Dessen bin ich mir jetzt gewiss."

"Niemand hätte mir helfen können. Ich bin allein."

Ratzingers Züge wurden weicher: "Mit den wahren Fragen sind wir zumeist allein, Jonas. Nur Gott kann uns nahe kommen. Aber ich entdecke ihn noch nicht in Ihrem Herzen."

Jonas empfand Dankbarkeit wie auch Verwunderung. Der Kardinal zeigte echte Anteilnahme und erwies sich als wahrer Seelsorger. So kannte der Junge ihn nicht von den Vorlesungen, die Ratzinger trotz seines engen Zeitplans immer noch hielt. Jonas hatte ihn als geistreichen und unnachgiebigen Denker schätzen gelernt.

"Verstehen Sie mich nicht miss, Jonas. Ihre ersten Studienarbeiten haben ein wenig Aufsehen erregt. Wir sehen Ihrem akademischen Werdegang hoffnungsvoll entgegen. Aber das ist eine aufregende Zeit für Sie. Die Wogen in Ihrem Inneren müssen sich glätten. Pflegen Sie Ihr Gemüt, sonst nutzt all das Wissen nichts."

"Deshalb bin ich hier. Ich suche Antworten, suche Bestimmung. Die heilige Kirche hat mir mehr zu bieten als Macht und Geld. Vielleicht kann mir dieses Studium eine Richtung aufzeigen. Das Wissen hier dringt tiefer als der Volksglaube bei uns zu Hause."

Die Stimmung des Kardinals hob sich. Er war froh, sich Zeit für den jungen van Rathen genommen zu haben, der noch so viel vor sich hatte. Er war voller Potential, ein leeres Gefäß. Gerade im Alter war es wichtig, sich mit jungen Menschen zu umgeben. So gewann der Kardinal neuen Schwung. Die Lehre war immer sein Steckenpferd gewesen.

Gewiss war der Name bemerkenswert. Erbe einer der mächtigsten Familien des Landes. Aber Jonas hatte sich mit seinem Elternhaus überworfen; suchte eigene Wege. Derzeit würde der Einfluss der van Rathens der Kirche keinen Vorteil verschaffen. Doch seine Anlagen waren vielversprechend. "Der Glaube des einfachen Mannes basiert zumeist auf Tradition und Gewohnheit. Er kennt die Geschichten der Heiligen Schrift und die Regeln, die dem Gläubigen auferlegt werden. Aber dass zwischen den Evangelien und dem lebendigen Glauben ein zusätzlicher, geistiger Schritt verborgen liegt, davon ahnt er nichts. Aus dem geschriebenen Wort ist durch das Wirken der Apostel tätige Liebe geworden. Das war ein bewusster Schritt! Die frühen Kirchenmänner haben Nächstenliebe und Mitleid in eine Tradition gewandelt. Das lehren wir hier. Es ist kein Geheimnis, aber kaum einen kümmert es, man nimmt es einfach hin.

Jemanden mit ein bisschen mehr Wissensdurst lässt das keine Ruhe: Wer verändert die Welt? Wer bestimmt, was Einzug hält in den gesellschaftlichen Kanon, was gut und richtig ist; und was verdammenswert? Und wie geschieht es? Ich sage Ihnen: Es ist die Tat einzelner, denen es gelingt, etwas Bedeutendes, Wichtiges so innig mit der Seele des Volkes zu verbinden, dass es allgemeines Gut wird. Wer das erkannt hat, der löst sich von allen Konventionen und kann Großes bewirken: entweder für sich, und er wird ein haltloser Egoist - oder für ein höheres Gut: dann findet er hier her, um zu lernen. An diesem Scheideweg stehen wir - und nur der Himmel ist das Limit!"

Jonas lauschte aufgeregt. Unversehens fühlte er sich etwas Bedeutendem zugehörig; wollte Anteil daran nehmen: "Ich habe schreckliche Zeiten durchlebt, in denen sich die Frage nach dem Sinn meines Daseins so schwer auf mein Gemüt legte, dass ich die Fähigkeit zu leben verlor. Niemand verstand meine Pein und die einfältige und lustlos praktizierte Religion meiner Umgebung brachte keinen Trost. Wozu ist solcher Glaube gut?"

Der Kardinal fühlte sich durch den Angriff auf den kirchlichen Ritus keineswegs getroffen. Ein beherzter Streit um die Sache diente dem Guten. Aber diesen Vorwurf konnte der Kirchenmann nicht gelten lassen: "Achte stets den Glauben der breiten Masse, an ihm erprobt sich manch hochstrebender Gedanke. Erinnere dich an die Geschichte: Nach Jesu Tod und Auferstehung verstreuten sich die Apostel in der damals bekannten Welt. Sie überbrachten die frohe Kunde, mussten sich aber auch mit dem auseinanderzusetzen, was sie vorfanden. In Griechenland waren es die Gedanken der bedeutenden Philosophen; in ihnen fanden sie wahrhaft Göttliches. Auf der einen Seite die Vernunft, der Logos. Auf der anderen Seite die neue Botschaft von Liebe und Barmherzigkeit. Was taten sie? Sie fügten beides zusammen. Ein wahrhaft hoheitlicher Akt! Aus dieser Zeit stammen die anmutigsten und erhabensten Schriften des neuen Testaments. Die kalte Vernunft der Griechen wurde mit Liebe erfüllt. Die Mathematik wurde lebendig. Aus den Zahlen wurde eine Melodie. Das ist es, was die Religion der Naturwissenschaft voraus hat und der Gottesdienst der theologischen Vorlesung: Die Lebendigkeit, die Schönheit. Wenn Sie mal wieder zu viel gelernt haben, Jonas; wenn Theorien und Strukturen Ihre Sinne vernebeln, besuchen Sie einen Gottesdienst; egal, ob er in einem Dom oder einer kleinen Kapelle abgehalten wird, seine Kraft ist stets dieselbe. Schauen Sie in die Herzen der Gläubigen. Darin ist eine Reinheit, die dem Theologen zuweilen verlorengeht. Auch mir ist dies widerfahren."

Jonas fasste Zutrauen zu dem Kirchenmann: "Ich bin erleichtert, zu hören, dass auch Würdenträger wie Sie ihre dunklen Stunden haben."

Kardinal Joseph Ratzinger (1988); Quelle: R. Meierhofer

Ratzinger lachte: "Die gehören zu jedem guten Leben, mein junger Freund. Und so sehr man mich in der Öffentlichkeit schätzen oder fürchten mag, so wenig sagt dies über den wahren Menschen aus. In der katholischen Kirche erwirbt man sich einen gewissen Ruhm erst in späteren Jahren. Das erleichtert es, das ausufernde Ego ein wenig zu bremsen; und doch kostet es fortdauernde Mühe, so mancher brave Gläubige scheitert daran. Lassen Sie sich Zeit! Die persönliche Entwicklung lässt sich nicht so beliebig beschleunigen wie das Aneignen von Wissen. Man verliert sich schnell in den Fakten. Alles Wesentliche erhalten wir als Geschenk. Sie sind auf der Suche nach dem Göttlichen? Damit wandern Sie auf den Spuren vieler weiser Männer. Kein Weg gleicht dem anderen; aber letztendlich führen sie alle zum selben Ziel."

"Doch Zahllose scheitern. Sie verzweifeln daran." Jonas konnte das Unbehagen, welches er empfand, nicht verbergen.

"So ist es. Gott sei Dank. Gott hat die Welt mit dem Risiko des Dunkels geschaffen, um des helleren Lichtes wegen. Du hast die Freiheit zu scheitern. Das verleiht dem rechten Weg wahrhaft Bedeutung. Doch gibt es keinen Grund zur Furcht. Die Riten und Schriften der Kirche bieten allerhand Hilfsmittel an die Hand des Suchenden. Jonas, Sie sind hier von Seelsorgern umgeben. Nichts ist gewaltig genug, um Gott zu umschließen, aber nichts so gering, um von ihm ausgeschlossen zu werden."

"Dann könnten wir alle den Weg in die Dunkelheit einschlagen? Selbst die Christliche Kirche?"

Ratzinger verzog erheitert die Mundwinkel. Was für ein vielversprechender Kopf: "Unsere Archive sind voller Beispiele. Und sie wurden niemals gelöscht, wie manche behaupten. Gerade durchleuchten wir zahlreiche Aufzeichnungen aus der Zeit der Inquisition. Es wird Zeit, hervorzuholen, was manch einer gerne vergessen würde. Wir werden sie auf Geheiß des Heiligen Vaters öffentlich machen. Niemand ist vor dem Bösen gefeit, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die heiligen Sakramente, wie Taufe und Weihe, die Evangelien der Bibel, sie alle sind beseelt vom Heiligen Geist. In ihrem Licht verliert die Dunkelheit ihre Kraft."

"Niemand leugnet die Fehler der Vergangenheit, Eminenz. Das waren die Jugendsünden der Kirche."

Der Professor der Dogmatik widersprach: "Die Kirche ist jung! Man muss unterscheiden zwischen Menschenwerk und Gotteswerk. Im Namen Gottes wurden zahlreiche Gräueltaten begangen. Aber nicht alles hier hat göttliches Ausmaß. Auch bei uns tummeln sich Kaufleute und Juristen; ich selbst verwalte mehr, als dass ich wirke. Leider."

Sie lachten, aber Jonas wurde gewahr, wie sehr dies den Kardinal schmerzte.

"Mein Junge, ich will sie nicht mit den Visionen eines alten Mannes plagen, aber ein paar Worte noch, bevor wir uns trennen müssen: Niemand will das Mittelalter zurück. Aufklärung und Wissenschaft haben der Menschheit zu einer neuen Blütezeit verholfen, das ist unbestritten. Aber wer denkt heute noch langfristig? Wir als Kirche sind dazu verpflichtet, die Zukunft offen zu halten. Wir wollen die Vernunft nicht zurücknehmen, sondern ausweiten. Ihre Seele, Jonas, ist unsterblich und auf Gott ausgerichtet. Diese Tatsache ist bedeutend für alle Seelen der Welt. Sie ermutigt uns, die Möglichkeiten unserer Zeit sinnvoller zu nutzen. Es ist schwieriger ein Egoist zu werden, wenn man gewiss ist, eines Tages seinem Schöpfer entgegenzutreten."

Jonas war froh. Dieser weise Mann verkörperte alles, was er sein Leben lang gesucht hatte; alles woran es Ihr mangelte. Bis eben hatte er gezweifelt, jetzt war er sicher: Sein Weg lag bei Gott. Er verabschiedete sich.

"Leben Sie wohl, Jonas van Rathen. Unser kleines Gespräch war ein Jungbrunnen für mich. Seine Heiligkeit wird mich demnächst zum Subdekan befördern; ein offenes Geheimnis", er zwinkerte, "also warten weitere Aufgaben auf mich, die meine Besuche in der bayrischen Heimat einschränken werden. Aber Sie werden im Lauf Ihrer Ausbildung noch das eine oder andere Mal Rom besuchen. Ich hoffe, dann können wir ein wenig Zeit finden für einen Plausch. Ein kleiner Rat: Lernen Sie Italienisch, es ist das Englisch der Kirche und nicht schwer zu verstehen, wenn man Latein beherrscht."



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